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Gegenwart schürfen und schichten

In unserem derzeitigen Szenario der wuchernden Ereignisse verdichtet sich die Fülle der Kultur- und Medienoberflächen zu einem diffusen Gesamteindruck, in dem der Blick schwimmt. Im Stadtraum streifen uns en passant die visuellen Botschaften von Kultur- und Konsumgütern; sie streunen auf unseren Wegen, zirkulieren in der symbolischen und ökonomischen Ordnung, strapazieren zuweilen unsere Wahrnehmung, transportieren kulturelle Mythen wie auch Überzeugungen und evozieren Erinnerungen. Letztere werden besonders dort aktiviert, wo unsere Wahrnehmung auf bedeutsame Momente und persönliche Bezüge stößt, wo konkrete Erfahrungen mit im Spiel sind, die mit angenehmen wie unangenehmen Vorstellungsbildern verknüpft werden und die Gegenwart mit der Vergangenheit verzahnen.

Katja Pudor interessiert sich für diese zeitliche Gemengelage; sie befragt die Beziehungen zwischen Gegenwart und jüngster Vergangenheit, zwischen Präsenz und Absenz. Ihr Interesse gilt vor allem Prozessen der Transformation, der Verschiebung von historischen Bedeutungssetzungen wie auch der Überlagerung von verschiedenen temporären Ebenen. So begreift sie beispielsweise gebaute Architektur jenseits ihrer funktional geplanten Gebrauchsformen als lesbares, gleichsam archäologisches Feld. Das Gehen in der Stadt ist für Pudor ein Format, um die Wahrnehmung für historisch geformte Stadtlandschaften zu schärfen und urbane Prozesse und Dynamiken zu erkennen. Für sie macht es das Durcheinander und Nebeneinander von unterschiedlichen Zeiten und architektonischen Konfigurationen erfahrbar; jeder Gang führt an Straßenzügen und Bauwerken aus unterschiedlichen Epochen entlang und konfrontiert uns mit Gebäuden, Ergebnissen und Widersprüüchen vergangener Zeiten. Katja Pudors künstlerische Praxis folgt freilich nicht zwangsläufig chronologischen Entwicklungen oder stadtpolitischen Dramaturgien, sondern ist vielmehr geprägt durch affektive Verwicklungen und Überschneidungen von Wirklichem und Imaginiertem. So arbeitet sie mit Fotografien, deren Motive ihr seit der Kindheit vertraut sind, die sie dann auf ihren Streifzügen durch die Stadt in Bildbänden wiederentdeckt hat und überrascht und verwundert war.

Ausgangspunkt für die Serie Protocols of remembering (2019) sind zwei gefundene, opulente Bildbände, die in der Vorwendezeit veröffentlicht wurden. Zum einen ist dies der zwischen 1959 und 1985 erschienene Band Berlin - Hauptstadt der DDR von A-Z, zum anderen handelt es sich um das Buch DDR - Deutsche Demokratische Republik. Beide Publikationen wurden in mehreren Auflagen bis Ende der achtziger Jahre vom F. A. Brockhaus Verlag Leipzig veröffentlicht. Die Abbildungen in den Bänden zeigen prominente Gebäude in Berlin wie auch repräsentative Städtebilder der DDR, die nach dem Krieg fotografiert wurden, als die gesamte demokratische Republik die erste Phase des planmäßigen Wiederaufbaus bereits hinter sich hatte. Für die Herausgeber der Bildbände lag es offensichtlich auf der Hand, den Wandel der Städte nach dem Krieg abzubilden, um damit auch den gesellschaftlichen und öffentlichen Fortschritt zu dokumentieren. Beide Bände tranportieren die Losung, die an sämtliche Werke der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst und auch an die Architektur herangetragen wurde: national in der Form, sozialistisch im Inhalt. Aus diesem Grund wurden die Bände von höchsten Stellen aus Partei und Regierung der DDR auch bei diplomatischen Treffen verschenkt. Zu DDR-Zeiten kursierten die politisch-propagandistisch motivierten Fotografien der DDR-Moderne als Symbol für Fortschritt und Teilhabe in den Medien, in der Architekturgeschichte der DDR und in jedermanns Köpfen. In der Nachwendezeit wurden die bildgewordenen Utopien der Ost-Moderne im Handumdrehen ausgemustert und landeten in Antiquariaten, im Papiermüll oder auf der Straße. Katja Pudor hat zu diesen vermeintlich überholten Bildnarrativen kein zynisches, sondern ein nachdenkliches Verhältnis. Mit der Sprache dieser Bilder umgehen heißt: Den eigenen, gewohnten Blick auf die Gefüge der Architektur- und Städteabbildungen zugunsten neuer Konstellationen zu öffnen, die Situation der Begegnung mit den Fotografien zu bestimmen, die eigenen

Birgit Effinger, Kunstwissenschaftlerin
2020